Die Steinmeier-Formel: Fragile Stabilität oder Irrweg? – Maciej Piotrowski
Steinmeier ist heute der bekannteste deutsche Politiker in der Ukraine. Nicht wegen seiner Präsidentschaft oder seiner Parteitätigkeit, sondern wegen einer ganz bestimmten Initiative noch als Außenminister. Es handelt sich um den Vorschlag eines von zahlreichen Plänen zur Umsetzung der Übereinkunft von Minsk in der Frage des russisch-ukrainischen Krieges im Donezbecken.
Manche Ukrainer reagieren im Spiel mit Assoziationen auf den Namen Steinmeier mit solchen Worten wie „Hoffnung” und „Frieden”, andere dagegen sprechen von „Kapitulation” und „Verrat”. Wie kam es dazu, dass man die Bestimmungen von Minsk vor 5 Jahren zu verwirklichen begann, und wie kann sich das auf die Situation in ganz Mittel- und Osteuropa auswirken? Es lohnt sich, diese Frage noch vor dem Treffen von Angela Merkel, Emmanuel Macron, Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin zu beantworten, das am 9. Dezember in Paris stattfinden soll.
Die Steinmeier-Formel – was ist das?
Präsident Selenskyj verkündete auf der Konferenz am 1. Oktober, dass bis Ende dieses Jahres ein neues Gesetz über den Sonderstatus der Oblaste Donezk und Luhansk (heute okkupierte Gebiete) vorbereitet wird. Die Einführung dieses Gesetzes sollte gerade auf die Steinmeier-Formel aufbauen, wozu sich der Präsident gegenüber dem Vertreter der OSZE in der Ukraine Martin Sajdik verpflichtet hat. Dem Präsidenten zufolge soll dies ein Schritt zur Wiederherstellung des Friedens im Donbass und zur Reintegration dieser Territorien mit der Ukraine sein.
Die Steinmeier-Formel geht davon aus, dass ein befristeter Sonderstatus für die heute okkupierten Gebiete erst nach der Durchführung lokaler Wahlen in diesen Territorien eingeführt wird. Fixiert werden soll dieser Status aber erst, nachdem die OSZE erklärt hat, dass diese Wahlen nach demokratischen Prinzipien und Standards stattgefunden haben. Außerdem sollen die Wahlen nach geltendem ukrainischen Recht durchgeführt werden.
In Abhängigkeit vom Verständnis dieser Formel sollen diese Wahlen wahrscheinlich unabhängig von der Präsenz russischer Truppen im Donbass stattfinden. Theoretisch steht ihre Anwesenheit auf ukrainischem Territorium natürlich im Widerspruch zu der erwähnten Bedingung der Übereinstimmung mit dem ukrainischen Recht, und in der Praxis setzt diese Formel auch keinerlei Kontrollprozeduren für die Durchführung dieser Wahlen voraus. Wenn die führenden internationalen Politiker auf einen Abschluss des Friedensprozesses drängen, dann wird auch die OSZE es nicht wagen, zu protestieren und auf die russischen Truppen hinzuweisen, die in ihren Stützpunkten irgendwo am Rande der Städte im Donbass bereitstehen.
Selenskyjs Absichten
Warum ist Selenskyj so sehr an einem baldigen Treffen mit Putin und an dessen Effekt in Form eines Friedensschlusses in der Ostukraine gelegen?
Verallgemeinernd kann festgestellt werden, dass die Priorität des vorherigen Präsidenten Petro Poroschenko die internationale Arena betraf. Als ehemaliger Außenminister verstand dieser das ganze „Weltenschach” gut, er wollte dabei als gleichrangiger Spieler angesehen werden und sich für die Position und Subjektivität seines Landes einsetzen. Abtreten wollte er dann in der Glorie eines europäischen Staatsmannes, der die Souveränität der Ukraine verteidigte.
Selenskyj vertritt eine völlig andere Perspektive. Seine erste Begegnung mit einem ausländischen Politiker – wenn man diejenigen nicht mitzählt, bei denen er solche als Komiker von der Bühne aus amüsiert hatte – kann auf den März dieses Jahres und seinen Besuch in Paris bei Emmanuel Macron datiert werden. Selenskyj hat eine ukrainische Perspektive und wollte wahrscheinlich als ein Präsident in Erinnerung bleiben, der seinen Bürgern half: sie aus russischen Gefängnissen befreite, ihnen ein Dach überm Kopf, Ruhe von dem täglichen Beschuss an der Front sowie Löhne und Renten in den okkupierten Gebieten gab. Die meinungsbildende Kiewer Zeitung „Dzerkalo Tyżnia” anerkannte kürzlich, „Selenskyj [sei] der erste ukrainische Präsident, für den die Menschen in den okkupierten Territorien wichtiger sind als die Territorien selbst”. Dabei unterstreichen die Journalisten, dass bei all dieser Sorge um die gewöhnlichen Menschen das Interesse des Staates in Mitleidenschaft geraten kann.
Daher auch seine Worte aus dem ersten Interview in seiner politischen Karriere: „Ich würde mich sogar mit einem kahlköpfigen Teufel einigen, nur damit kein Mensch sterben muss (…). Sie haben ihre Punkte aufgeschrieben, wir die unseren, und wir würden uns dann irgendwo in der Mitte treffen.”
Selenskyj hat sich von diesem so simplen, etwas infantilen Politikverständnis nicht allzu weit entfernt. Im letzten Halbjahr hat er viele Mechanismen kennengelernt, von denen sich die Verhandlungen mit Russland leiten lassen, und wie es scheint, hat er einige davon auch erfolgreich ausnützen können, aber am Kern der Sache hat sich bei ihm nichts geändert.
Er hat auch den historischen Augenblick verstanden, in dem er sich befindet. Erstens wollte er seine Friedensinitiative durchführen, solange sich seine Unterstützung in der Gesellschaft noch auf einem außerordentlich hohen Niveau hält. Dabei weiß er sehr wohl, dass sich sein politisches Kapital letztendlich auch erschöpfen und es ihm dann immer schwerer fallen wird, auch unpopuläre Entscheidungen zu erzwingen. Außerdem will er diese Gespräche aufnehmen, solange die Ukraine noch für den Gastransfer nach dem Westen von Bedeutung ist, denn wenn der deutsch-russische Nord Stream 2 entsteht, dann würde die ukrainische Verhandlungsposition noch schwächer sein.
Damit kann man Selenskyjs eiliges Verlangen nach einem Treffen mit Putin und der Erfüllung weiterer Punkte erklären, welche die Russen für notwendig hielten, um der Organisierung einer Konferenz im Normandie-Format zuzustimmen. Dabei geht es insbesondere um den Truppenrückzug an weiteren Frontabschnitten und um die Zustimmung zur Steinmeier-Formel, was von rechtsgerichteten ukrainischen Aktivisten bereits kritisiert wurde.
Es scheint, dass der ukrainische Präsident meint, direkte Gespräche mit dem Herrscher im Kreml wären die einzige effektive Möglichkeit, aus der Pattsituation herauszukommen. Alia Szandra von EuroMaidan Press vermutet, dass Selenskyj entweder eine falsche Vorstellung von Putins Ansichten hat oder dass er meint, „diese bei einem Gespräch mit Putin auf einem Treffen im Normandie-Format verändern [zu] können”. Diese Autorin empfiehlt der ukrainischen Administration jedoch, die vorherigen Versuche eines Friedensschlusses im Donbass (von 2014) näher zu analysieren und „sich von der Illusion [zu] verabschieden, ein schneller Frieden mit Russland und den <<Volksrepubliken Luhansk und Donezk>> wäre möglich ohne ukrainische Kapitulation”.
Womit wäre Russland einverstanden?
Szandra zufolge wird sich „Russland allen realen Versuchen eines Friedensschlusses im Donezbecken widersetzen, wenn dabei weniger herauskäme als eine Kapitulation der Ukraine”. Sie analysiert die bisherigen Vorschläge Russlands betreffs Veränderungen in der Verfassung der Ukraine und stellt fest, diese würden „ ORDŁO [so werden in der ukrainischen Sprachregelung die abgetrennten Gebiete der Oblaste Donezk und Luhansk bezeichnet, die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk – Anm. d. Red.] erlauben, als ein besonderer Staat in den Grenzen der Ukraine zu funktionieren, wobei in dieser Zeit Kiew die Rechnungen bezahlen würde.
Eine ähnliche Sicht vertritt der ukrainische Analytiker P. Burtianski in einem im Portal texty.org.ua veröffentlichten Artikel. Als strategisches, langfristiges Ziel Russlands bezeichnet er die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die Ukraine. Wenn sich der Kreml dies nicht sofort sichern kann – was auch kaum wahrscheinlich wäre –, dann wird sein einziges wirkliches Zugeständnis darin bestehen, die bewaffneten Kämpfe im Donbass zu beenden, jedoch ohne die Kontrolle über diese Gebiete der Ukraine aus der Hand zu geben, d.h. Russland wird bemüht sein, „sie so teuer wie möglich zu verkaufen”. In der Praxis wird sich Russland auch nicht für einen endgültigen Rückzug aus dem Donbass entscheiden, sowohl aus Prestigegründen (d.h. um nicht sein Gesicht zu verlieren) als auch wegen der Korruptionsinteressen russischer Kräfte, die mit den separatistischen Republiken durch Handelsbeziehungen verbunden sind.
Dieser Analitiker ist der Ansicht, eine solche Lösung würde für Kiew eine Niederlage bedeuten: und eine solche muss sie im Resultat der verlorenen Kriegskampagnen in den Jahren 2014 und 2015 auch sein. Aber es ist die Aufgabe der neuen ukrainischen Administration, dass sie sich nicht in eine totale Katastrophe verwandelt, das heißt: es muss vermieden werden, finanzielle Verpflichtungen für diese Gebiete zu übernehmen, die man ja nicht wird kontrollieren können, die unter der Präsenz russischer Truppen organisierten Wahlen dürfen nicht anerkannt werden, und man muss aufpassen, dass der Truppenrückzug auf beiden Seiten parallel verläuft (d.h. dass die Ukraine nicht größere Zugeständnisse macht als die gegnerische Seite).
Burtianski betont, dass es in der gegenwärtigen Situation nicht Russland, sondern die Ukraine es ist, die es eilig hat. Wichtig ist im internationalen Kontext auch das vom Analytiker aufgezeigte taktische Ziel Russlands: „die Rücknahme der wichtigsten internationalen Sanktionen”, was angesichts des sich verschlechternden Zustandes der russischen Wirtschaft und der Stimmung der Bevölkerung von wesentlicher Bedeutung ist.
Eine Macron-Formel?
Eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der friedensfördernden Absichten Selenskyjs kommt, angesichts des Drucks von Wladimir Putin und der beständigen Überlegenheit Russlands, dem Westen zu. Er kann auf die Ukraine Druck ausüben, dass sie größere und schnellere Zugeständnisse macht, oder er kann Kiew bei der Verteidigung ihrer Positionen stärken und unterstützen.
Im letzten Halbjahr ist hier besonders Frankreich aktiv geworden. Emmanuel Macron sagte in seinem letzten Interview für „The Economist” ganz offen, sein Ziel sei eine Stärkung der Möglichkeiten Europas in der Rolle einer „balancing power”, und dazu brauche er „ein Überdenken unserer Position gegenüber Russland” und „die Neueröffnung eines strategischen Dialogs”, um zu verhindern, dass ihre Beziehungen von einer dritten Seite aus beeinflusst werden, die ganz andere Interessen hat. Dabei handelt es sich um die USA, deren Politik gegenüber Russland aus einem „administrativen, politischen und historischen Superego” resultiere.
Zur Öffnung der Beziehungen mit Russland braucht Macron die Beseitigung eines Hindernisses: des andauernden ukrainisch-russischen Krieges (dem Franzosen zufolge war das eine Art Arbeitsunfall in den Beziehungen zwischen Russland und der EU: „Wir haben 2013-2014 unsere Schwäche gezeigt und dann passierte uns die Ukraine”). Daher die Bemühungen des französischen Präsidenten um Organisierung einer Begegnung im Normandie-Format, aber auch das gute Gespräch mit Putin nach Festlegung des Datums für dieses Treffen. Wie das russische Außenministerium daraufhin informierte, „betonten beide Seiten, dass die Durchführung einer solchen Begegnung real zu einer schnellen und umfassenden Erfüllung der Verpflichtungen auf dem Gebiet einer politischen, innerukrainischen Regelung der Situation durch Kiew beitragen sollte. Vor allem geht es darum, dass das Gesetz über den Sonderstatus des Donbass in Kraft tritt.” Man kann also damit rechnen, dass Frankreich die Ukraine zu Zugeständnissen ermuntern und wohl kaum einen ähnlich starken Druck auf Russland ausüben wird.
Ein fragiles Gleichgewicht
Die Wahlen und der Friedensprozess – das sind positive Stichworte. Aber man darf nicht vergessen, was sich aus ihrer schnellen Verwirklichung ergeben kann. Die Dezemberkonferenz der führenden Politiker im Normandie-Format in Paris kann über die Dynamik dieser Aktivitäten entscheiden. Sollten die auf dieser Begegnung gefassten Beschlüsse eher den russischen Prinzipien einer Lösung des Konflikts entsprechen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es zur Durchführung von Wahlen im Donbass kommt, und zwar in Anwesenheit der von den Russen kontrollierten Armee (vielleicht als „lokale Miliz” getarnt), sowie zur Aufnahme der von Russland kontrollierten Repräsentanten der sogenannten Volkrepubliken Donezk und Luhansk ins ukrainische Parlament und zu einer verfassungsmäßigen Blockade des Beitritts der Ukraine zur NATO.
In der unmittelbaren Perspektive des Alltagslebens wird sich all dies natürlich auf eine Zunahme der Sicherheit in der Ostukraine auswirken. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zahl der militärischen Opfer zurückgeht, insofern der bewaffnete Konflikt nicht sowieso beendet wird. Möglich sind gewisse Formen der Kontrolle durch die Ukraine oder vielleicht eher der OSZE an der Grenze zu Russland im Donezbecken. Vielleicht verbessert sich die humanitäre Situation in diesen Gebieten und ihre Bewohner bekommen dann endlich wieder Zugang zu solchen Segnungen der Zivilisation wie Mobiltelefonverbindungen, regelmäßige Lebensmittelversorgung und normale Auszahlung der Renten.
Aber wie wird sich all das in langfristiger Perspektive auf die Sicherheit in dieser Region auswirken? Es wird von den Ergebnissen der Begegnung in Paris abhängen, ob die russische Aggression von 2014 und die militärische Präsenz in der Ukraine eine gewisse Dosis an rechtlicher Legitimierung erhalten kann. Wenn die Wirtschaftssanktionen verringert werden, dann ist das für den Aggressor ein Signal, dass sich militärische Maßnahmen zur Verteidigung „eigener Einflusssphären” durchaus lohnen. Und wenn die russischen Forderungen in die ukrainische Verfassung aufgenommen werden, dann wird die Souveränität der Ukraine noch stärker eingeschränkt sein. Mit Sicherheit wird ein solches Vorgehensschema kein gutes Beispiel liefern, welches autoritäre Politiker in Zukunft von der Verwirklichung aggressiver Absichten gegen ihre Nachbarn abhalten könnte.
Was also kann über das letztendliche Ergebnis der Begegnung in Paris entscheiden? Die Haltung Russlands und Frankreichs ist wohl voraussehbar. Was das Verhalten und die Nachgiebigkeit der Ukrainer betrifft, so bleibt dies noch ungewiss – wir wissen ja, dass es im Umfeld des Präsidenten auch Diplomaten gibt, die seit Jahren hart im Verhandeln sind und im Interesse ihres Landes handeln. Womit sich Selenskyj selbst einverstanden erklären wird, wenn er Putin von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht – das ist schon weniger gewiss.
Und zum Schluss des Puzzles haben wir noch Deutschland – in den letzten Monaten ist man in dieser Angelegenheit dort weniger aktiv, aber man distanziert sich immerhin von den Initiativen Macrons. Berlin war aber immer um Stabilität in Mitteleuropa bemüht und wollte die Architektur der internationalen Sicherheit stärken und gewiss nicht schwächen. Daher kann die Rolle Deutschlands als „Zünglein an der Waage” entscheidenden Einfluss auf die weiteren Geschicke des Friedensprozesses im Donbass ausüben.
https://www.kremlin.ru/events/president/news/62063
* Diese Veröffentlichung wurde vom polnischen Außenministerium im Rahmen der öffentlichen Ausschreibung „Zusammenarbeit im Bereich der öffentlichen Diplomatie 2019 –Polen und Deutschland. Eine Partnerschaft für die Zukunft“ mitfinanziert.
Diese Veröffentlichung gibt ausschließlich die Meinung des Verfassers wieder und deckt sich somit nicht zwangsläufig mit der des polnischen Außenministeriums.