In der Geschichte der polnisch-amerikanischen Beziehungen wird das Jahr 2019 hauptsächlich wegen zwei symbolischen Ereignissen in Erinnerung bleiben.
Im Frühjahr begingen wir das hundertjährige Jubiläum der Anknüpfung diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern. Vor hundert Jahren, und zwar genau am 16. April 1919, ernannte der amerikanische Präsident Thomas Woodrow Wilson, der in Polen für sein 14-Punkte-Friedensprogramm bekannt ist, dessen Punkt 13 ja die Entstehung eines unabhängigen polnischen Staates betraf, Hugh S. Gibson zum Botschafter der USA in Warschau. Knapp einen Monat später überreichte der erste amerikanische Botschafter in der Geschichte sein Beglaubigungsschreiben und begann seine Arbeit in Warschau.
Wenn von den polnisch-amerikanischen Beziehungen in jener Zeit die Rede ist, dann soll auch an die Geschichte amerikanischer Piloten mit Merian C. Cooper an der Spitze erinnert werden, der als Pilot des Kościuszko-Geschwaders im Krieg gegen die Bolschewiki auf polnischer Seite kämpfte. Weniger bekannt, aber außerordentlich wichtig ist auch die Geschichte der amerikanischen Hilfe für Polen im Rahmen der von Herbert Hoover geleiteten American Relief Administration in den Jahren 1919-1922.
Ein weiteres Ereignis, das in letzter Zeit sicher ein breites Echo in der öffentlichen Meinung gefunden hat, war die Aufhebung des Visumzwanges für polnische Bürger, die nach Amerika reisen wollen. Am 11. November 2019, d.h. genau am Jahrestag der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit, wurde Polen in das Visa Waiver Program aufgenommen. Es mag seltsam klingen, aber die Frage der Aufhebung des Visumzwanges war für die polnischen Bürger eines der wichtigsten, auf den offiziellen Begegnungen von Vertretern beider Länder immer wieder berührten Themen. Seit der Systemtransformation zu Beginn der neunziger Jahre wurde das Thema der Visafreiheit nicht nur anlässlich der Treffen mit Repräsentanten der USA diskutiert, sondern es vermochte oft auch andere Dinge in den Hintergrund zu rücken, die besonders vom Gesichtspunkt Warschaus aus wirklich wichtig waren. Erst in den letzten Jahren hörte das Visathema auf, ein so dringendes Problem zu sein, was selbst von polnischen Diplomaten zugegeben wird, welche gern scherzen, endlich sei nun eine Veränderung im Herangehen an die Beziehungen mit Washington eingetreten, weil das Visathema nun nicht mehr in jeder Diskussion über die transatlantischen Beziehungen auftauchen muss.
Verursacht war die Bedeutsamkeit des Visathemas u.a. durch Prestige- und Statusfragen (im Sinne der sozialen Position und einer Art Aufwertung). Die Polen fühlten sich schon immer als ein Teil des Westens und die Aufhebung des Visumzwanges stellte in ihren Augen ein symbolisches Signal dar, dass wir nun endgültig in die Familie der westlichen Staaten zurückgekehrt sind.
Die Bedeutung dieser Frage resultierte u.a. aus dem Amerikabild der Polen. Damit meine ich, dass die Vereinigten Staaten von der Mehrheit der polnischen Bevölkerung fast als ein Gelobtes Land angesehen wird, in welches viele Polen einwandern möchten. Eine Ursache dafür waren auch historische Ereignisse. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges befand sich Polen in der sowjetischen Einflusssphäre. Die Polen hatten nun für mehr als vier Jahrzehnte ihre Freiheit verloren. Damals bildete sich ein Bild der USA als Oase der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte heraus, wobei die USA nicht nur in Polen so gut angesehen war, aber an der Weichsel erhielt dies eine besondere Bedeutung. Für die Polen waren die Vereinigten Staaten die einzige Kraft, die fähig war, die Sowjetunion zu bremsen und Polen sowie den übrigen Ländern Mittel- und Osteuropas die ersehnte Freiheit wiederzugeben. Die Außenpolitik Washingtons, die in Westeuropa, besonders von linken Kreisen, oft als Symptom des amerikanischen Imperialismus galt, wurde in Polen eher im Kontext eines Kampfes des Guten mit dem Bösen gesehen, wobei dieses Böse natürlich immer Moskau war. Dieses Bild wurde noch verstärkt, nachdem Ronald Reagan als Präsident ins Weiße Haus einzog. Reagans Herausforderung Moskaus und seine unversöhnliche Haltung gegenüber dem Kommunismus sowie sein Festhalten an traditionellen Werten brachten ihm in Polen viele Sympathien ein. In Erinnerung geblieben sind den Polen insbesondere seine Äußerung über das Imperium des Bösen sowie seine Reaktion auf die Verkündigung des Kriegsrechts in Polen. Obwohl seit dem Ende seiner Präsidentschaft bereits 31 Jahre vergangen sind, werden sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Republikanische Partei von vielen Polen, unter ihnen von den Politikern der regierenden Rechten, bis heute durch das Prisma dieses Politikers wahrgenommen, trotz aller am Potomac stattgefundenen gewaltigen sozialen und politischen Veränderungen.
Ein Konsens in der Frage der Westorientierung
Die Erfolge, die Polen im Verlauf der letzten dreißig Jahre verzeichnen konnte, was die politische Integration mit dem Westen betrifft, aber auch das beständige Wirtschaftswachstum, das Warschau notieren kann – all dies hat seinen Grund zum Teil in der unverhohlenen Faszination oder sogar Bezauberung, was die Vereinigten Staaten sowie den Westen überhaupt angeht. Ohne diesen Willen zur „Rückkehr” in die Familie der westlichen Zivilisation, wie dies an der Weichsel oft formuliert wird, wäre das gar nicht möglich gewesen.
Seit der Systemtransformation deklarierten alle Regierungen in Warschau – immerhin siebzehn – ihren Willen zur Integration mit der NATO und der Europäischen Union und arbeiteten an der Verwirklichung dieses – man könnte sagen: überparteilichen – Planes. Praktisch war die gesamte Außenpolitik Warschaus auf eine (Re)integration mit dem Westen ausgerichtet. Irgendwelche anderen Szenarien wurden überhaupt nicht in Betracht gezogen.
Der Beitritt Polens mit Tschechien und Ungarn im Jahre 1999 und die schließliche Aufnahme dieser Länder in die Europäische Union im Jahre 2005 stellte eine deutliche Zäsur in der polnischen Außenpolitik und eine Erfüllung der Träume frühere Generationen dar. Man kann mir Fug und Recht sagen, dass dieses Ereignis für die Polen ein kleines Ende der Geschichte bildeten, um einen Gedanken von Francis Fukuyama zu zitieren.
Nach dem Engagement der USA für den Krieg gegen den Terrorismus und der Intervention in Afghanistan sowie im Irak zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat Polen den Aktivitäten Washingtons immer ausdrückliche Unterstützung zugesichert. Im Streit zwischen den USA und den Ländern der alten EU stellte sich Polen klar auf die Seite Amerikas. In dieser Zeit erhielt Polen sogar den Beinamen eines Trojanischen Pferdes Amerikas in Europa. Damals ertönte aus dem Mund des französischen Präsidenten Jacques Chirac die berüchtigte Äußerung, Polen und andere mittel- und osteuropäische Länder hätten die Chance vertan, still dazusitzen, woran man sich in Warschau sehr wohl erinnert hat.
Diese klare Parteinahme für die USA und überhaupt die stark proamerikanischen Stimmungen unter den Polen finden ihre Begründung in den historischen Bedingungen, ergeben sich aber vor allem aus Fragen im Zusammenhang mit der internationalen Sicherheit. Trotz des Beitritts zur NATO und zur Europäischen Union und der kurzen Berauschung an diesem zweifellosen Erfolg musste man sich auch in Warschau darüber klar werden, dass die Geschichte keineswegs ein Ende gefunden hatte. Die Machtübernahme von Wladimir Putin in Russland im Jahre 2001 und seine Politik einer Restitution der verlorenen imperialen Position Moskaus weckten in Polen erneut alte Befürchtungen um die eigene Sicherheit. Für die Polen war es klar, dass diese einzig und allein von den Vereinigten Staaten garantiert werden kann. Jeglicher Gedanke, Polen könne sich in der Frage der Sicherheit z.B. auch auf Deutschland oder Frankreich verlassen, wurde – ganz abgesehen von deren Potential – von diesen Ländern oft torpediert. An der Weichsel beobachtet man aufmerksam alle Versuche einer Annäherung auf der Linie Berlin-Moskau (Beispiel: Nord Stream I und II) oder Paris-Moskau (in der Frage einer Aufhebung der Sanktionen oder der Haltung zum Krieg in der Ukraine). Während Russland in Deutschland oder Frankreich oft als Handels- und Wirtschaftspartner sowie als Öl- oder Gaslieferant angesehen wird, gilt es in Polen als potentielle Gefahr für die nationale Sicherheit. Hervorzuheben ist, dass Polen an die Ukraine grenzt, wo gegenwärtig ein offener Konflikt mit Russland andauert, im Nordosten im Bezirk Kaliningrad russische Truppen stationiert sind und die Unabhängigkeit von Weißrussland (Belarus) vom Kreml immer stärker in Frage gestellt wird.
Mehr Inhalt in den gegenseitigen Beziehungen
In den letzten Jahren haben die polnisch-amerikanischen Beziehungen deutlich an Fahrt gewonnen. Die Abkühlung der Beziehungen mit Washington in der Zeit der Präsidentschaft von Barack Obama, die u.a. durch seine Versuche eines Resets in den Beziehungen mit Russland verursacht waren, was im Verzicht auf den Bau eines Raketenschildes in Polen und Tschechien seinen Ausdruck fand, hat ein Ende gefunden. Es muss hervorgehoben werden, dass der Verzicht auf den Bau dieses Schildes gerade am 17. September erfolgt war, d.h. genau am Jahrestag der Aggression Sowjetrusslands gegen Polen im Jahre 1939.
Seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten haben die polnisch-amerikanischen Beziehungen an Tempo gewonnen. Warschau hat die Verteilung von US-Militär in Polen mit Zufriedenheit akzeptiert, trotz ihres Rotationscharakters. Und Präsident Trump lobte Warschau öffentlich dafür, dass Polen 2% des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgibt und dass die Regierung von „Recht und Gerechtigkeit” (PiS) ihren Willen deklariert hat, weitere amerikanische Waffen zu kaufen (z.B. Flugzeuge vom Typ F-35). Washington deklarierte außerdem seine Bereitschaft für solche Initiativen Warschaus wie den Bau eines Zentralflughafens, die Drei-Meere-Initiative (Three Seas Initiative) sowie das Projekt der Schaffung einer energetischen Infrastruktur für den Gastransfer, damit diese Region Europas von russischen Lieferungen unabhängig wird.
Realisten im Hinterland
Durch das Prisma dieser Aktivitäten kann sowohl die gegenwärtige polnische Regierung als auch der gesamte Mainstream der polnischen Politik als proamerikanisch eingeschätzt werden. Natürlich werden, seit Polen Mitglied der Europäischen Union ist, besonders von Seiten heutiger Oppositionsgruppierungen schon seit längerem Stimmen laut, die die Bedeutung der Beziehungen mit den europäischen Partnern betonen. Aber es scheint, dass diese nicht im Widerspruch zu guten Beziehungen mit den USA stehen, insbesondere weil sie eher wirtschaftliche Fragen oder die Vertiefung der europäischen Integration betreffen und nicht die mit der Sicherheit verbundenen Angelegenheiten.
Aber im Hinterland der politischen Parteien ist in manchen von den Parteien unabhängigen Think-Tanks ein intellektuelles Ferment erwähnenswert.
Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass die Schule des Realismus in den internationalen Beziehungen immer populärer wird. Außerordentlicher Popularität erfreut sich die Geopolitik. Eine ganze Reihe von Publikationen zu geopolitischen Themen ist erschienen. Vor kurzem wurde das klassische Werk des britischen Geographen und Begründers der Geopolitik Halford Mackinder „Democratic Ideas and Reality” erstmals ins Polnische übersetzt. Zitiert werden auch die Werke von Nickolas Spykman oder von Alfred T. Mahan, einem amerikanischen Strategen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Man erinnert sich auch an die Werke bekannter polnischer Denker und Politiker von einst, wie Ryszard Wraga, Eugeniusz Romer, Władysław Studnicki und viele andere. Außerdem werden die Gedanken Józef Piłsudskis und die Konzeptionen seiner Ostpolitik oft zitiert.
Solche Begriffe wie Heartland oder Rimland, See- und Landmächte, Hegemon und Juniorpartner werden durch alle Fälle hindurchdekliniert. Auf öffentlichen Debatten sowie in den sozialen Medien werden erbitterte Diskussionen über Themen wie Zentrum und Peripherie, die Fähigkeit einzelner Staaten zur Machtprojektion (power projection) oder die Position der einzelnen Länder in den Lieferungsketten geführt.
Diese Renaissance der Geopolitik hat ihre Ursache u.a. in der immer stärker zunehmenden Position Chinas auf der internationalen Arena und in der Herausforderung, die dies für die USA bedeutet. Dies wurde in Polen von vielen Experten bemerkt, die sich mit der Außenpolitik befassen, und auf diese Weise gewann die Debatte über geopolitische Themen an Tempo. Dieses wachsende Interesse an Asien ist insofern interessant, als wohl zum ersten Mal in der polnischen Debatte, wenn vom Osten im weitgefassten Sinn die Rede ist, die Gespräche nicht mit dem Thema Russland, sondern China beginnen.
Das Interesse an Asien und dabei vor allem an China sowie an solchen Projekten wie die Neue Seidenstraße (One Belt One Road Initiative) und der durch verursachte Pivot der USA im Pazifik haben auf natürliche Weise in Polen Beunruhigung ausgelöst über den Grad des Engagements Washingtons auf dem Alten Kontinent, besonders was die Ostflanke der NATO betrifft, deren Hauptbindeglied Polen ja ist.
Es werden immer öfter Fragen gestellt, sowohl zum Thema der amerikanischen Sicherheitsgarantien als auch nach dem Willen und der Fähigkeit der USA, ihren Bündnispartnern aus der NATO in diesem Teil Europas wirkliche Hilfe zu leisten. Obwohl niemand die Wichtigkeit einer engen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und die sich daraus ergebenden Vorteile in Frage stellt, erheben sich Stimmen mit der Forderung, die amerikanischen Garantien bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu überprüfen.
Die Befürworter des Realismus kritisieren die traditionell proamerikanische Haltung der jetzigen Regierung als viel zu einseitig, weil sie im Falle einer solchen Notwendigkeit keinen Handlungsspielraum bietet. Diesen Kritikern zufolge führt die gegenwärtige Regierung eine allzu klientelistische Politik und verzichtet für diese – keineswegs völlig sicheren – Sicherheitsgarantien auf die eigenen Interessen oder Entwicklungsmöglichkeiten, die wir gewinnen könnten. Hierbei geht es um den Ankauf militärischer Geräte (z.B. Flugzeuge vom Typ F-35) und die daraus resultierende zunehmende Abhängigkeit vom Lieferanten, in diesem Falle von den USA, und das in einer so sensiblen Frage wie die nationale Sicherheit. In wirtschaftlichen Fragen handelt es sich u.a. um die Deklaration von Morawiecki und Pence, betreffend die Sicherheit der Schaffung eines 5G-Netzes in Polen, und das Akzeptieren des amerikanischen Gesichtspunktes durch Warschau in Fragen einer Zusammenarbeit mit chinesischen Firmen, die sich mit dieser Technologie befassen. Den Kritikern zufolge bedeutet ein so eindeutig proamerikanischer Kurs eine Einschränkung unserer Möglichkeiten einer eventuellen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China.
Eine Reaktion auf die zunehmende Popularität einer so realistischen Haltung in den Kontakten mit den USA bildet die Kritik dieses Herangehens an die internationalen Beziehungen, wie sie von den Vertretern der Schule des politischen Idealismus geäußert wird, die sich für die Fortführung eines konstruktivistischen Herangehens an die internationalen Beziehungen aussprechen. Sie sind der Ansicht, dass die Verwendung von für solche Großmächte wie Russland oder China typischen Termini eine Übernahme ihres Gesichtspunktes bedeuten und sich für solche Staaten wie Polen nur nachteilig auswirken würde. Gleichzeitig sehen sie keine Alternative zur Zusammenarbeit mit den USA und sind weiterhin der Ansicht, dass dieses Land ähnlich wie in de Zeit des Kalten Krieges der Führer der westlichen Welt ist.
Neue Kritiker
Um das Thema der Kritik am proamerikanischen Kurs der Regierung von „Recht und Gerechtigkeit” (PiS) abzuschließen, muss noch erwähnt werden, dass nach den letzten Parlamentswahlen im polnischen Sejm eine neue Gruppierung Einzug gehalten hat, die die Politik der Regierung in den Beziehungen mit Washington kritisiert. Sowohl von linker wie von rechter Seite auf der politischen Bühne werden Fragen laut, die solche Themen wie das Fehlen einer Digitalsteuer und in diesem Zusammenhang auch die Steuerbefreiung für amerikanische Korporationen oder die Kostenrückerstattung für von amerikanischen Konzernen hergestellte Medikamente aus dem polnischen Staatshaushalt betreffen.
Vorgeschlagen wird, auf eine stärker multipolare Außenpolitik zu setzen und von dem allzu einseitigen proatlantischen Kurs Abstand zu nehmen.
Zusammenfassend muss daran erinnert werden, dass die erwähnten kritischen Stimmen – man könnte sagen: zum Glück – nicht das Aufkommen eines stark antiamerikanischen Kurses in der polnischen Politik bedeuten, sondern lediglich zu einer stärker nuancierten Außenpolitik ermutigen oder die Einführung einer solchen beeinflussen wollen. Es gibt in Polen Stimmen, unser Land solle sich nicht vor die Wahl zwischen den USA und der Europäischen Union stellen lassen, sondern mit allen Partnern zum Wohle Polens und seiner Verbündeten zusammenarbeiten.